Gedicht des Monats MAI 2010
Das
Gedicht des Monats soll anregen, laut
zu lesen und am besten auswendig zu lernen.
Jeden Monat stellen wir ein Gedicht vor, passend zur Jahreszeit oder
Ereignissen des Monats.
In diesem Monat
gibt's gleich zwei Gedichte und gar mit
Kommentar:
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Mailied
Clemens Brentano
Im Maien im Maien ists lieblich und schön,
Da finden sich viel Kurzweil und Wonn';
Frau Nachtigall singet,
Die Lerche sich schwinget
Über Berg und über Thal.
Die Pforten der Erde, die schließen sich auf,
Und lassen so manches Blümlein herauf,
Als Lilien und Rosen,
Violen, Zeitlosen,
Cypressen und auch Nägelein.
In solchen wohlriechenden Blümlein zart,
Spazieret eine Jungfrau von edeler Art;
Sie windet und bindet,
Gar zierlich und fein,
Ihrem Herzallerliebsten ein Kränzelein.
Da herzt man, da scherzt man, da freuet man sich,
Da singt man, da springt man, da ist man fröhlich;
Da klaget ein Liebchen
Dem andern sein' Noth,
Da küßt man so manches Mündlein roth.
Ach Scheiden, ach Scheiden, du schneidendes Schwerdt,
Du hast mir mein junges frisch Herzlein verkehrt.
Wiederkommen macht,
Daß man Scheiden nicht acht't;
Ade, zu tausend guter Nacht.
Im Maien, im Maien, da freuet man sich,
Da singt man, da springt man, da ist man fröhlich,
Da kommet so manches
Liebchen zusammen;
Ade, in tausend Gottes Namen.
(aus: Des Knaben Wunderhorn)
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Mailied
Johann Wolfgang von Goethe
Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!
Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch
Und Freud' und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd', o Sonne!
O Glück, o Lust!
O Lieb', o Liebe!
So golden schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn!
Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt.
O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb' ich dich!
Wie blickt dein Auge!
Wie liebst du mich!
So liebt die Lerche
Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmelsduft,
Wie ich dich liebe
Mit warmem Blut,
Die du mir Jugend
Und Freud' und Mut
Zu neuen Liedern
Und Tänzen gibst.
Sei ewig glücklich,
Wie du mich liebst!
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Kommentar:
1. Der Autor Brentano
Clemens Brentano ist Kind des Rheinlandes. Er wurde am 9. September
1778 in Ehrenbreitstein (Koblenz) geboren und wuchs in Frankfurt,
Heidelberg und Mannheim zum Mann heran. In seine Familie
gehören berühmte Autorinnen wie Sophie von La Roche
(die Großmutter) und seine Schwester Bettina, die Achim von
Arnim heiratete.
Brentano, der in Göttingen Philosophie studierte, war sein
Leben lang ein Verehrer der Jungfrau Maria, deren Namen er gern als
sein Pseudonym benutzte und er auch öfter Mariä
Geburt, also den 8. September als seinen Gebutstag angab.
Er heiratete die Schriftstellerin Sophie Mereau und zieht mit ihr 1804
nach Heidelberg. Hier entsteht die zusammen mit Achim von Arnim
angelegte Sammlung von Volksliedern, gefasst in dichterische, eigene
Worte "Des Knaben Wunderhorn".
Nach wechselnden Wohnorten, etwa Berlin, Frankfurt und
München, stirbt Brentano am 28. Juli 1842 im Haus seines
Bruders Christian, der den von Schwermut umfangenen aufgenommen hatte.
Zu Brentanos wichtigsten Werken gehört, neben "Des Knaben
Wunderhorn" eine Reihe von Gedichten sowie die italienischen
Märchen, unter denen Gockel, Hinkel und Gackeleia (1838) das
bekannteste ist.
2. Die Gedichte
BRENTANO - Das Erscheinen der wohl wichtigsten deutschen
Volksliedsammlung künstlerischer Prägung, "Des Knaben
Wunderhorn" (3 Bde. zwischen 1805 und 1808) gab Anlass zu einem Streit
unter den Romantikern über "dichterische" oder "naiv,
wahrhafte" Volksliedtexte. Während Achim von Arnim
für eine Bearbeitung und poetische Anverwandlung des
Volksliedes durch den Dichter eintrat, ergriffen etwa die
Brüder Grimm für die rohere, "naive" Form des
vorgefundenen Volksliedes Partei. In der Sammlung Brentanos finden sich
in kaum unterscheidbaren Nuancen und Stimmungen beide Formen der
Volksliedüberlieferung/bearbeitung.
Das sechsstrophige Mailied Brentanos beginnt mit den Tönen und
Bewegungen der Vögel, tritt gewissermaßen durch die
aufgeschlossenen Pforten der Erde unter die Blumen und begegnet dort
der "Jungfrau edeler Art". Hier wendet sich das dichterische,
volkstümliche Ich in ein allgemeines "man", dass dem
Wonnemonat Mai mit Scherz und Küssen huldigt. Strophe 5 jedoch
bringt eine Peripetie mit Erwähnen des "schneidenden
Schwerts". Aus dem Vogel-Blumen-Liebesreigen muss geschieden sein. Das
dichterische Ich tritt nun aus dem Volkston, aus dem
unpersönlichen "man" heraus und bekennt sich als junges, aber
bereits "verkehrtes" (i.S. verletztes, nicht mehr allein sich
gehörendes) Herz. Die folgenden Verse gehören wohl
zum Anrührendsten dieser Poesie:
"Wiederkommen
macht,
Daß man Scheiden nicht acht't;
Ade, zu tausend guter Nacht."
Da weht bereits die spätromantische Todverhangenheit, zugleich
die Verdammnis der Wiederholung heran. Um das bittere Scheiden (das
Aus-der-Welt-Scheiden, dem der Abschied vom Mai vorausgeht) zu
vergessen, geht es in die Wiederholung, ins Wiederkommen: Jedes neue
Jahr bringt einen neuen Frühling ... Und noch das
"Gute Nacht" will tausendmal gesagt sein, weil der Mensch sich nicht
scheiden mag vom Tag, vom Leben.
Als Resümee dieser Empfindungen tritt die Schlussstrophe an,
kehrt in das unpersönliche "man" zurück und erinnert
noch einmal an die Liebesverbindungen der Menschen.
GOETHE - Goethes strenger formorientiertes, neunstrophiges Mailied, 1771 entstanden, ist
ein scheinbar ungetrübtes, ganz der Wonnekraft des Monats
hingegebenes Liebeslied. Man beachte allein die Reimpaare, in deren
Mitte das "dich-mich" steht:
Wonne - Sonne, schön - Höhn, Feld - Welt,
dich - mich,
Luft - Duft, Blut - Mut, gibst - liebst
Auch Goethe beginnt mit der Natur - aber sogleich als Anruf, wo
Brentanos Lied eher beschreibend vorgeht. Das Rufen ist weiterhin der
vorherrschende Redegestus bei Goethe (acht Ausrufezeichen!). Die Lerche
ist beiden Dichtern ein Maienvogel. Für Brentano nimmt sie
aber eine eher konventionelle Rolle ein, während sie bei
Goethe das dichterische Ich spiegelt, liebt "wie ich dich liebe". In
dieser stark Sturm-und-Drang geprägten Poesie ist eben alle
Natur Ausdruck des Ich, des dichterischen Subjekts und seiner
subjektiven Gefühle. Die Angebete bleibt gesichts- und
namenlos, ja erscheint eher als Anlass der Wonnebeglückung des
Dichters als einer realen Situation, wie noch dem Maientanz und
Küssen bei Brentano, gemäß. So endet Goethe
auch mit dem Anruf dieser Muse, die ewig glücklich
sei, "wie du mich liebst". Hier herrscht also ein ungebrochener Morgen
("Morgenwolken, Morgenblumen"), "die volle Welt" und das dichterische
Ich als ihr Mittelpunkt. Kein Erinnern ans Scheiden, oder gar Andeutung
von Lebensabschied wie bei Brentano.
So stehen sich in den beiden Mailiedern zwei sehr unterschiedliche
Charaktere gegenüber: ein religiös
geprägter Dichter, dessen Wissen um die Transzendenz des
Lebens hin auf den "Gottes Namen" (letzte Worte des Brentanoschen
Mailieds) die Betrachung des Maientreibens durchzieht, und ein sich
weltlich gebender, jubelnd den Höhenflug eines liebenden
Subjekts genießender Dichter.
Letzterer ist freilich nicht so ganz immanent, wie die sich
übersteigernde Form und Reihung der Nomina anzeigt. Brentano
aber ist dann auch nicht so vollkommen losgelöst, als er nicht
die Wiederkehr des Mai, das Schicksal des Liebens und Scheidens
auskosten würde.
Helmut Krebs, M.A.
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